Kinderherzen irren nicht

Kinderherzen irren nicht
Nikolaus widerlegt Einstein
Wie der Rauschebart auch dieses Jahr wieder die Naturgesetze
überlistet

Nach den Regeln der Physik ist es eine unmögliche Aufgabe: Um die
Millionen Kinder zu beschenken, müßte der Nikolaus mit 4,5
Millionen Kilometern in der Stunde unterwegs sein. Und trotzdem:
Er schafft es jedes Jahr...
Es gibt schätzungsweise zwei Milliarden Kinder auf der Welt.
Vorausgesetzt, der Nikolaus beschenkt nur die Christenkinder (was
nicht der Fall ist), werden also die Kinder der Moslems, der
Hindus und anderer Glaubensgemeinschaften abgezogen. Außerdem
werden die Kinder abgezogen, die das Jahr über nicht brav waren
und deshalb keine Geschenke bekommen. Es bleiben mithin weltweit
378 Millionen Kinder, die beschenkt werden müssen.
Vorausgesetzt, in jeder Familie leben im Schnitt 3,5 Kinder, muß
der Nikolaus 108 Millionen Haushalte besuchen - in einer Nacht.
„Unmöglich zu schaffen, das scheitert doch schon an den Gesetzen
Einsteins und der Physik“, sagt Thomas Neff (32),
Raumfahrttechniker an der Technischen Universität München. Und
legt NEUE REVUE die folgende Rechnung vor:
Damit der Nikolaus sein Pensum schafft, fängt er schon am 5.
Dezember um 17 Uhr mit der Arbeit an, wenn die ersten Kinder
schlafen gehen. Die Reise führt durch die Zeitzonen von Ost nach
West. Dadurch gibt es einen 31-Stunden-Tag. Will er alle 108
Millionen Familien schaffen, muß er 967,7 Besuche pro Sekunde
schaffen. Anders gesagt: Nikolaus hat jeweils eine tausendstel
Sekunde Zeit pro Familie.
Nicht viel, wenn man bedenkt, was der Rauschebart alles tun muß:
aus dem Schlitten springen, Pakete schnappen (für jedes Kind das
richtige!), in die bereitgestellten Stiefel packen. Und zwar
geräuschlos, es soll ja nicht entdeckt werden. Und gleich weiter
zum nächsten Haus.
Angenommen, die 108 Millionen Familien würden im Durchschnitt
jeweils 1,3 Kilometer voneinander entfernt wohnen. Dann mußte der
Nikolaus 140,4 Millionen Kilometer zurücklegen, um sein Pensum zu
erfüllen. Dafür müßte er mit 4,5 Millionen km/h unterwegs sein -
die Aufenthalte gar nicht mitgerechnet. Das entspricht 1258 km pro
Sekunde - oder der 3812-fachen Schallgeschwindigkeit.
Wenn es für jedes Kind Apfel, Nuß und Mandelkern bzw. ein Geschenk
mit einem Kilo Gewicht gibt, müssen 378000 Tonnen transportiert
werden. Nikolaus müßte das mit Hilfe von Knecht Ruprecht irgendwie
schleppen.
Und was würde passieren, wenn er, wie der Weihnachtsmann,
wenigstens einen Schlitten hätte? Ein normales Rentier kann nicht
mehr als 175 Kilo ziehen. Selbst wenn die fliegenden Rentiere das
Zehnfache schaffen, reichen nicht acht, nicht neun Rentiere, um
den Schlitten zu ziehen - es müßten 216000 sein.
Das Gesamtgewicht des Schlittens inklusive der Rentiere beim Start
von Nikolaus’ Geschenke-Tour läge bei 442800 Tonnen - das ist das
6,7-fache des Ozeanriesen „Titanic“.
442800 Tonnen, die mit einer Geschwindigkeit von 1258 Kilometer
pro Sekunde durch die Luft jagen, erzeugen einen Luftwiderstand.
Der ist 494000 mal größer als der von einem Space-Shuttle beim
Eintritt in die Erdatmosphäre. Das vorderste Paar Rentiere wäre
pro Sekunde völlig ungeschützt umgerechnet 3,66 Milliarden
Gigajoule Energie ausgesetzt. Das entspricht einer Leistung von
3,66 Milliarden Kernkraftwerken. Der komplette Schlitten würde
praktisch sofort in Flammen aufgehen - mit der Sprengkraft von
jeweils 1000 Megatonnen TNT. Eine davon schon würde auf Erden den
nuklearen Winter erzeugen. 23400 von ihnen pulverisieren den
Planeten.
Dies führt zu dem Schluß: Selbst wenn es Nikolaus einmal gegeben
haben sollte, dann nur 0,0000127 Millisekunden. Dann wäre er
mitsamt der Erde in einem ohrenbetäubenden Knall verdampft.
Angenommen, der Nikolaus hätte noch schnell in sein
Funkgerät „Hilfe!“ gerufen: Die Funkwellen wären höchstens 3,80
Meter weit gekommen, und schon hätten er und sein Schlitten sich
in Luft aufgelöst.
Diese schönen Geschenke - die Kinderaugen werden wieder glänzen.
Denn Einstein und die Gesetze der Physik sind der Kopf. Doch
Nikolaus (und natürlich auch der Weihnachtsmann) kommen von
Herzen...

Mathias Nareyek in NEUE REVUE Nr. 49/99

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